Leben mit Depression: Wir sind nicht kaputt.
Depression, jeder kennt einen Betroffenen. Trotzdem fällt es uns so schwer sie als Krankheit anzuerkennen und offen darüber zu sprechen. Mir fällt es schwer darüber zu schreiben.
Traurig sein bedeutet Schwäche. Zumindest fühle ich mich oft kaputt, messed up, nicht als funktionierender Teil der Gesellschaft. Irgendwas ist in mir kaputt, alles ist schwer, manchmal zu schwer. An schlechten Tagen bin ich der Überzeugung, dass nichts und niemand mir helfen kann. Ich bin kaputt und das bleibt so. Auf eine Art stimmt das auch ABER…
Als ich 22Jahre alt war, habe ich realisiert, dass etwas nicht stimmen kann. Ich hatte mich gerade aus einer Fernbeziehung getrennt, der große Traum – die Flucht in die Staaten nach der Ausbildung – weg! Ich war unglaublich müde, schlief bei Freunden auf der Couch ständig ein. Wenn ich früh durch den leeren Verkaufsraum auf Arbeit lief, fühlte ich mich leerer. Monatelang weinte ich überall. Heimlich auf Arbeit, heimlich in der Straßenbahn, schluchzend und herzzerreißend zu Hause.
Meine Finger taub, mein Bauch krampfte sich vor Schmerzen zusammen, Schnappatmung und Panik.
Oft lief ich instinktiv zum nächsten Spiegel, schaute mir tief in die Augen und versuchte damit irgendwie wieder in die Realität zu finden, der Dauerschleife im Kopf zu entfliehen. „Du bist nichts wert. Du bist kaputt. Du funktionierst nicht. Es ist alles so schwer. Du bekommst das nie hin.“ So oft wie möglich flüchtete ich mich ins Nachtleben, meiner persönlichen Komfortzone, und zum Alkohol. Auf der Suche nach Liebe mit meinen besten Buddies Bier und Zigaretten. Wenn meine Freunde nach Hause gingen, blieb ich rastlos zurück. Nur für einen Moment Ruhe und Frieden, wenn ich die Bestätigung eines fremden Typen bekam. Ist das normal? Ist es nur Liebeskummer? Wieso geht es nicht weg? Wieso wiederhole ich immer das, was mir weh tut? Wieso wiederholt sich alles immer und immer wieder?
Nach fast zwei Jahren traute ich mich einen Termin bei einer Psychologin zu machen. Ich hatte das Glück in einer Subkultur unterwegs zu sein, in der Depression ein offenes Thema war. 2007 trugen fast alle meine Lieblingsbands T-Shirts von „To Write Love On Her Arms“, einer Non-Profit Organisation aus den USA, die sich für Mental Health und Aufklärung einsetzt. Drei Jahre später zahlte sich diese Schleichwerbung aus, denn ich wusste, wo ich Hilfe finde.
Ich bekam 20 Stunden Verhaltenstherapie. „Jedes Leiden ist ein Leiden, egal wie groß es ist.“ Meine erste Lektion war zu verstehen, dass ich das Recht auf Hilfe habe und mich nicht schämen muss, auch wenn ich dachte, mir geht es doch viel zu gut (Job, Wohnung, Freunde, Familie) um Depressionen zu haben.
Ich brach die Therapie ab, als ich eine neue Beziehung einging. Der akute Schmerz war weg, die Abschlußprüfung stand vor der Tür. Das passt schon. Sieben Jahre später kam der nächste Schlag.
In der Zwischenzeit ist die eine Beziehung kaputt gegangen, die nächste auch, der Job wurde gekündigt und ich finde mich frei und selbstständig wieder. Und in der altbekannten destruktiven Leier. Ich wurde arbeitsunfähig (ohne es zu bemerken) und ließ mir das Herz etliche Male brechen. Frustriert suchte ich nach der Ursache und nach diesmal „nur“ einem Monat härtester bewusster Niedergeschlagenheit machte ich einen neuen Termin bei einer Therapeutin. Die Anzeichen waren diesmal für mich deutlich erkennbar.
Ich mache jetzt eine Schema-Therapie, die ich selbst bezahle damit zukünftige Versicherungs-, Kredit- oder Whatever-Fuzis nicht denken, ich wäre kaputt.
Aber das wichtige ist, ich mache wieder eine Therapie. Depression ist eine Krankheit. Man kann einen Weg finden mit ihr zu Leben. Wir sind nicht kaputt.
Bei einer Schema-Therapie beschäftigt man sich auch mit dem inneren Kind. Akute Situationen werden auseinandergenommen, Gefühl und Moment getrennt und dann geht man zum Ursprung des Gefühls. Szenario: Mein Kunde schickt mir eine schroffe Mail und ich fühle mich wertlos. Wann habe ich mich ähnlich gefühlt? Meist in der Kindheit oder Jugend. Ich fühle mich in den Sportunterricht der 5.Klasse zur Bodenturnprüfung zurückversetzt. Druck und Scham. Meine Lehrer wollen für mich undenkbares und meine Mutter sagt mir zu Haus, dass sie das auch nicht konnte, wir können das nunmal nicht und dass es nicht schlimm sei. Keiner möchte mir etwas Böses und doch bleibt bei mir eines hängen: du kannst es halt nicht. Du hast nicht mal eine Chance. In der Schema-Therapie geht man in einer angeleiteten Trance zurück in diesen Moment und gibt sich selbst was man damals gebraucht hätte. Zuneigung, Liebe und Motivation. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Mutter gesagt hätte: „Du kannst alles was du nur möchtest. Auch das.“ Ich wünschte, jemand hätte schon damals verstanden, dass diese Art von Leistungsdruck destruktiv ist. In meiner Trance sage ich dem Lehrer stellvertretend die Meinung und umarme mein eigenes inneres Kind.
Ich programmiere mein eigenes Gehirn um, denn diesem ist es egal ob diese Situation jemals stattfand. Ich fühle sie jetzt und das stößt den Prozess an.
Therapie ist anstregend und fordernd. Ich komme mittlerweile oft gut gelaunt hin und möchte nicht über meine „dunkle Seite“ sprechen, möchte in meiner neuen Komfort-Zone bleiben. Aber es gibt noch Momente, da kommt sie wieder. Und wie bei jedem Training, auch mit dem Gehirn, zählt die Übung. Also übe ich, höre in mich, versuche die Dinge zu lösen, die in der Vergangenheit ungelöst blieben und mich beeinflusst haben. Auch wenn ich es zu dem Zeitpunkt nicht gemerkt habe. Und Stück für Stück lerne ich mich kennen, werde die Person, die ich sein möchte und lerne mir zu Vertrauen.
Zur Zeit übe ich Konfrontationen nicht mehr zu Vermeiden. Meine Bedürfnisse sind etwas wert, ich bin etwas wert und ich darf wütend sein, etwas doof finden und das auch (gewaltlos) kommunizieren. Für das Mädchen, welches immer für schüchtern und langweilig gehalten wurde, welches für die Streitigkeiten der Eltern und die schlechte Laune zu Hause verantwortlich gemacht wurde, ist das eine Mammutaufgabe. Für die Frau, die ich jetzt bin, ist es der Schlüssel zu einem balancierten Leben.
Was ich mit diesem Text sagen möchte ist: du bist nicht allein. Depression ist kein Urteil und du wirst wieder glücklich sein. So kitschig das klingt. Keep fighting. #yourpastdoesnotdefineyou
Am 19.09.2018 findet die zweite Runde des Selflove Club Leipzig statt. Diesmal mit Unterstützung der Deutschen Depressionhilfe. Bei diesem Gespräch findest du Impulse zur Selbsthilfe und auch als Angehöriger. Weitere Hilfe, auch ein akutes Sorgentelefon findest du direkt bei der Depressionshilfe.
Danke für deinen wunderbaren und ehrlichen Post, liebe Sarah! An der Stelle, wo du deine Therapie-Erfahrung beschreibst, dem Lehrer in Gedanken die Meinung sagst und dein inneres Kind umarmst, kamen mir sogar ein bisschen die Tränen. Das ist eine so schöne Sichtweise und die Beschäftigung mit dem inneren Kind ja oft der Schlüssel zum Glück in der Gegenwart. Danke für diesen tollen Anstoß.
[…] Es gestaltet sich wirklich schwer die Geschichte meiner Depressionen in nur ein paar Worte zu fassen. Der Ausgangspunkt war ein Total-Zusammenbruch. Nein, nicht so einer bei dem jeder um dich es sofort erkennt und zur Hilfe eilt. Eher so eine Art schleichender Prozess. Man hätte auch meinen können, ich sei einfach etwas faul geworden. Andere dachten, ich hätte einfach nur Liebeskummer. Aber Depressionen, die packen dich am Kern deines Seins. […]
Dies war ein hilfreicher Artikel über das Leben mit Depressionen. Mein Bruder ist schon seit einiger Zeit depressiv. Ich werde mein Bestes tun, um meinen Bruder zu unterstützen und ihm helfen, Unterstützung für die Depression zu suchen, mit der er zu kämpfen hat.
Vielen Dank für den Beitrag zum Thema Leben mit Depression. Meine Cousine sucht eine Kinderpsychiatrie für ihre Tochter, da diese unter schweren Depressionen leidet. Gut zu wissen, dass viele Betroffene erst überzeugt werden müsse, dass sie Hilfe verdienen.