Die Große Brennnessel – Power mit Kick für Frühjahrsmüde
„Kind, das schmeckt nicht!“, hallte es aus dem Mund meiner Großmutter, die für mich stets Vorbild, Superheldin und Zauberin war. Diese stärkste Frau der Welt hielt einen grüngelblichen Trunk in ihrer Hand, den sie mit säuselndem Singsang aus dem mir nur als unleidlich pieksig bekannten Kraut aufgoss, welches sie kurz zuvor im Garten pflückte. Ich wollte trotzdem probieren, denn was Oma zu Superkraft verhalf, konnte nur gut sein. (Oder wie sollte ich es mir sonst erklären, dass sie jeden Tag im Frühling eine handvoll Brennnesseln in heißes Wasser schmiss?)
In fester Überzeugung den geheimen Trank der Gummibärchenbande zu mir zu nehmen, nippte ich mit Augen zu am Keramiktopf: „Ähhhh – lecker…!“ Zwar verhalf mir das Zeug nicht zu den weiten Sprüngen, die ich aus der Trickfilmserie kannte, jedoch bildete ich mir ein, dass mir dieser Tee mit seiner Zauberformel über mehrere Jahre hinweg titanische Kräfte verleihen werde.
Tatsächlich ist die Brennnessel eine der verrücktesten Powerpflanzen. Und tatsächlich nehme ich heute noch eine Tasse täglichen Zaubertee im März und April, am besten selbstgepflückt und vor dem Frühstück, zu mir.
Auch die Spezialistin der Pflanzenheilkunde Maria Treben schwur in ihren Heilkräuterabhandlungen auf eine vierwöchige Brennnesselkur, die sie mit ihren knapp 90 Jahren „jung und elastisch“ hielt: „Niemals kann sich Bösartiges bilden, wenn wir unsere Brennnessel nicht nur ehren, sondern in regelmäßigen Abständen uns ihre wunderbare Kraft in Form von Tee einverleiben.“ Sie riet zu einer Tasse am Morgen vor Nahrungszufuhr und zwei weiteren im Laufe des Tages.
Das Autsch als Heilung – Kneippsches Nesselpeitschen gegen Rheuma
Als Unkraut schnell abgemäht oder bei Hautkontakt auch angeschrien, gilt die Brennnessel nicht als allerbeste Freundin der Menschen und ist vor allem durch Schmerzhaftigkeit und Quaddelbildung bekannt. Schon bei geringster Berührung brechen die kanülenartigen Brennhaare ab, dringen in die Haut ein und injizieren eine nesselnde, ameisengiftähnliche Flüssigkeit. Diese wirkt wie ein Wundermittel gegen Rheumaerkrankungen, und so empfahl bereits Herr Kneipp das Nesselpeitschen auf schmerzende Glieder: Zwei bis drei Tage lang solle man sich hierfür einmal täglich mit einem Brennnesselstrauch auf die schmerzende Stelle schlagen. Neben den dabei entstehenden Quaddeln auf der Haut erweitert das im Brennnesselgift enthaltene Histamin die Blutkapillaren und sorgt für die Freisetzung des körpereigenen Gewebshormons Histamin. Zusammen mit dem ebenso enthaltenen Serotonin fördert es die Durchblutung und sagt den Schmerzen Goodbye.
Wer jedoch nicht unter Rheuma, Arthrose, Ischias-Schmerz oder Hexenschuss leidet und ganz ausversehen in einen Brennnesselbusch fällt, kann auf diesen Tipp des weisen Paracelsius zurückgreifen: „Ubi malum, ibi remedium.“ – „Wo die Krankheit, da das Heilmittel.“
In der Nähe der Brennnessel findet sich meist der schmerzlindernde Ampfer. Dieser wird zerknüllt auf die Quaddelstelle gerieben und hilft schnell gegen den brennenden Reiz. Beim Pflücken für Powerrezepte kann man Schmerzen vorbeugen, indem man mehrmals beherzt von unten nach oben über die gesamte Pflanze streicht, sodass alle Stacheln abbrechen. (Wer dieser Methode nicht traut, versucht es beim Sammeln einfach mit Handschuhen.)
Erkennung & Verwechslung
Die grobgesägten matt behaarten Blätter der großen Brennnessel stehen einander paarweise gegenüber, sind also gegenständig, und kreuzweise versetzt. Der Stengel ist vierkantig und verstreut mit Brennhaaren bestückt. Die Blüte der Pflanze ist recht unscheinbar, grünlich, hängt an 2-5 cm langen Rispen und ist zweihäusig. Das bedeutet, dass männliche und weibliche Blüten an zwei unterschiedlichen Pflanzen hängen. Dabei sind die der männlichen Pflanze kürzer. Aus der Blüte entwickeln sich später, um den August herum, die bräunlichen Samen. Die weiblichen Pflanzen haben dabei weitaus mehr Beute zu bieten: bis zu 30.000 Samen können an ihnen gezählt werden. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb die Samen der männlichen Pflanze eher waagerecht vom Stiel abstehen, die der weiblichen Pflanze an ihm herunterhängen.
Verwechselt wird die Große Brennnessel manchmal mit der Kleinen Brennnessel. Diese ist allerdings dichter, kompakter, komplett grün anstelle von grau-grün, wird nur bis zu 45 cm groß und brennt stärker als die Große. Die Blätter der kleinen Brennnessel sind abgerundet und haben nicht die langgezogene zugespitzte Form der großen Brennnessel. Auch sieht sie der Taubnessel ähnlich. Beim Anfassen merkt man jedoch schnell den Unterschied.
Das Gruppenkraut mit Pfiff – Nährstoffreiches Deluxebuffet für Raupe, Huhn & Mensch
Brennnesseln begegnet man nie allein. Sie wachsen unaufhaltsam und zu vielt an den Knötchen ihres weit erstreckten Wurzelnetzes in die Höhe und überziehen große Flächen von stickstoffreichen Böden mit ausreichender Feuchtigkeit. Vor allem in Menschennähe, also an Wegesrändern, Schrottplätzen, Obstanlagen, Siedlungen und Gärten sind sie kaum zu stoppen, weshalb die wertvollen Halbschattenpflanzen oft als Unkraut beschimpft werden.
Doch Brennnesseln im Garten machen das Leben bunter: Sie sind wunderbare Brutplätze für mehr als dreißig heimische Falterarten und liefern Schmetterlingsraupen ein energiereiches Buffet zur Entfaltung schönster Buntheit und Flugkraft. Auch Hühnern sollte man, so wird gemunkelt, das Kraut anbieten, da es wohl zum Eierlegen anregt.
Beim Menschen, in diesem Fall Müttern, wird die Pflanze in kleinen Mengen zur Steigerung der Milchbildung in der Stillzeit empfohlen. Auch bei anderen Frauenleiden wie beispielsweise Periodenschmerzen wird zu ihr, meist als Tee in Kombination mit Frauenmantel, geraten.
Außerdem hält die Powerpflanze allerlei Nährstoffe bereit. Mit siebenmal mehr Vitamin C als Orangen, Kalzium, Kalium, Vitamin A und Magnesium ist sie eine wahre Schatztruhe. Brennnesseln bestehen aus 6-9% Eiweiß in der Feucht- und 30% in der Trockenmasse. Das ist mehr als in Soja.
Wunderkapseln und Proteinträger
Besonders gehaltvoll sind die Samen, die in vielen Kulturen selbst als Aphrodisiakum eingesetzt werden. Als kostenloses veganes Proteinpulver sind sie vor fast jeder Haustür zu finden und geben Stärkung bei Müdig- und Antriebslosigkeit. In der Pfanne geröstet oder auf Suppen gestreut toppen diese wahren Wunderkapseln alle möglichen Gerichte auf. Getrocknet und in Gläser gefüllt, lassen sie sich ein Jahr aufbewahren, um Smoothies oder Butterbrote zu verfeinern.
Zum Sammeln eignet sich besonders ein Mittag oder Nachmittag nach ein paar sonnigen, trockenen Tagen, da so das wertvolle Paket an Inhaltsstoffen besonders stark angereichert ist. Auch das Trocknen wird so einfacher. Hierfür legt man die Brennnesseln an einen luftigen, schattigen Platz, breit verteilt auf einer alten Zeitung, aus. Zwischendrin sollten die Pflanzen ab und an gewendet werden. Die Samen reibt man dann von den Stängeln ab. Zum Trennen der Samen eignet sich auch hervorragend ein Haushaltssieb. Wer es eilig hat und schnell Stärke braucht, kann die Samen im Backofen oder Dörrautomaten trocknen.
Übrigens: Pferdehändler sollen wohl früher auch ihren Tieren Brennnesselsamen gefüttert haben, da dies nicht nur das Haar dichter und glänzender machte, sondern den Tieren auch zu mehr Temperament verhalf, worauf die Preise ohne große Anstrengung in die Höhe schossen.
Auch beim Menschen soll die Pflanze das Haarwachstum anregen. Neben den Samen setzt man hier gerne ein Wunderwasser aus den Blättern ein.
Blätter & Tee für den gesamten Körper
Die Blätter bieten vor allem im Frühjahr und vor der Blüte den besten Geschmack. Für Salat sind die Triebe wunderbar geeignet und aufgrund ihrer vielen wertvolle Nährstoffe durch fast kein anderes Wildkraut zu ersetzen. Am besten hält man sich dann an die Frühjahrskur meiner Großmutter Marianne und entgiftet so den gesamten Körper sanft. Der Frühjahrsputz von innen regt den Stoffwechsel an, wirkt blutreinigend und als natürliches Antihistamin gegen Allergien, hilft der Hormonbalance und räumt laut Herrn Kneipp mit den faulen Säften in unserem Körper auf. Auch bei Blasen- und Nierenentzündungen hilft der entzündungshemmende Tee.
Am besten werden die oberen sechs Blätter einer Pflanze abgeschnitten, in siedendes Wasser gegeben und eine Minute ziehen gelassen. Bei getrockneten Blättern verlängert sich die Ziehzeit um weitere neun Minuten.
Wer zu den vergesslichen Menschen gehört und das Getränk in der Küche aus versehen stehen lässt, der kann es im abgekühlten Zustand als Haarwasser nutzen: Brennnesselauszüge verbessern fettiges und dünnes Haar, lassen es wieder sprießen und helfen gegen Schuppen. Einfach in eine Sprühflasche füllen und täglich den Kopf damit einsprühen. Auch als Gesichtswasser ist der Sud bestens geeignet.
Bei bereits ausgetrunkenem Tee kann man beim neuen Ansetzen das Haarwasser auch mit Apfelessig zubereiten. Hierfür mischt man 25 Gramm zerkleinerte Blätter mit einem viertel Liter Apfelessig und lässt die Mischung für zirka drei Wochen in der Sonne stehen. Der abgeseihte, auf der Kopfhaut einmassierte und 30 Minuten eingewirkte Sud hilft gegen Juckreiz und macht das Haar weich und leicht kämmbar.
Hard Facts
Große Brennnessel (Urtica dioica)
Sie hört auf: Hanfnessel, Saunessel, Donnernessel, Habernessel, Zingel, Haarnessel
Erinnert äußerlich an: eierförmige Herzen (Blätter)
Erinnert geschmacklich an: Spinat mit Nussaroma
Erkennbar durch: Brennhaare an Blättern und Blattstielen, Blätter oberseits kräftig grün und kahl, unterseits heller und behaart
Erspäht auf: stickstoffreichen Böden, Gärten, Weg und Waldrändern, Schuttplätzen, Böschungen
Sie ist: unempfindlich, ausdauernd, ein Kraftpaket
Sie wird: 45-150 cm hoch
Sie wirkt: blutreinigend, entgiftend, entschlackend, harntreibend
Sie enthält: Eisen, Vitamin A + C, Eiweiß, Kalium, Magnesium, Karotinoide, Kalzium, Silizium, Flavonoide und den Entzündungshemmer Kaffeoyläpfelsäure
Erntezeit der kleinen Blätter: im Frühjahr (März-Mai) die jüngeren Blätter für innerliche Anwendungen, ab Sommer nur die Blatttriebe oder auch die größeren Blätter für äußerliche Anwendungen
Erntezeit der großen Blätter: März-November (für äußerliche Anwendungen)
Erntezeit der Samen: Juli-November (weibliche Pflanze, dunklere Samen)
Erntezeit der Wurzel: November/Dezember
Einsatz innerlich: Tee, Salat, Spinat, Suppen, Proteinpulver, Smoothies
Einsatz äußerlich: Haar- und Gesichtswasser, Pickeltöter, Nesselpeitscher
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