Kommentar: Macht Yoga und Achtsamkeit unpolitisch?
Vor einiger Zeit bin ich über einige Artikel und Kommentare in der Presse gestoßen, die behaupten dass Yoga und Achtsamkeit unpolitisch machen. Warum? Laut der Autoren lenken beide Praktiken die Probleme der Welt auf die persönliche Ebene, wo man sie mit sich selbst ausmacht. Soweit verständlich, basieren doch Achtsamkeitstechniken und auch Yoga darauf seine innere Balance zu halten. Doch lenke ich damit meinen Fokus automatisch „nur“ auf meine eigene kleine Welt und meine inneren Belange? Verliere ich dadurch tatsächlich den Antrieb um politisch aktiv, wütend und laut zu sein?
einfach (nur) bei mir
Zuerst verstehe ich den Ansatz. Nachdem ich zum Beispiel das letzte Jahr die meiste Energie in das Auflösen alter Verhaltensmuster, Therapie und Selbstoptimierung gesteckt habe, muss ich zugeben, dass das Weltgeschehen und Politik auf lokaler Ebene viel zu kurz gekommen sind. Gerade habe ich nur sehr wenig Ahnung von den Themen, die nicht zufällig an meine persönlichen angrenzen. Aber auch in den Jahren zuvor war ich oft einfach vom Alltag abgelenkt und damit eine Mischung aus tagespolitischem Halbwissen und einer sehr nischigen Expertin.
Für mich bedeutet Achtsamkeit vor allem eins: Ruhe lernen. Meditation und Yoga – beides wird mir gerade noch zu schnell zu langweilig und ich verliere mich wieder im Alttagstrubel. Ich habe lange gesucht bis ich die passenden Techniken für mich gefunden habe. Tägliche Waldspaziergänge, ausgiebige Wandertouren und eine komplette Umstellung meiner Prioritätenlisten und Lebensstils haben mir dabei geholfen meinen Fokus wiederzufinden. Und das hat mehr als ein Jahr gedauert.
Also stimmt es, Achtsamkeit hat mich für einen Moment unpolitisch gemacht. Nehme ich mich überall raus, wird auch meine Stimme leiser.
Aber jetzt kommt mein Punkt: besonders jetzt habe ich einen klaren Kopf, bin bei mir und kann komplexe Themen überhaupt erst wieder aufnehmen und verstehen, ohne sie heftig subjektiv zu bewerten, weil ich nur gestresst und gehetzt umherflitze. Die Fähigkeit das Große und Ganze zu sehen – the bigger picture – gelingt mir besonders gut, wenn ich mich auch in andere Leben und Meinungen hineinversetzen kann und offen bin für Diskussionen.
Jetzt sagen Kritiker, dass Achtsamkeit ein stetiger Prozess ist und nicht nur eine Phase sein kann, wenn sie nachhaltig praktiziert wird. Das stimmt, Balance zu halten ist eine tägliche Aufgabe. Bin ich gerade in keinem Extrem unterwegs, läuft das auch wunderbar nebenbei. Leider beginnen wir doch mit Themen wie Achtsamkeit und Yoga erst, wenn wir uns in einer extremen Lebenslage befinden. Vielleicht kommt daher die Sichtweise, dass wir genau dann besonders mit uns selbst beschäftigt und unpolitisch sind.
slowly but surely
Ich betrachte Politik und das Weltgeschehen sicherer, nachhaltiger und werde aktiv, wenn ich halbwegs balanciert und bei mir bin. Wäre ich extrem traurig, extrem wütend, extrem irgendwas, dann kann dabei doch nur etwas Extremes herauskommen. Und ich bin der Überzeugung, dass unserer Welt vor allem Balance fehlt, auch wenn wir uns alle den einen Schlag, der alles von jetzt auf gleich besser macht, wünschen. „Slowly but surely“ – langsam aber stetig, das ist für mich einfach die realistische Alternative. Wie seht ihr das?
Auf den Punkt Sarah! Nicht selten sind Yoga und Achtsamkeit hilfreiche Instrumente, um aus einer Situation „auszubrechen“ die einen sowieso so anstrengt, dass man keinen Kopf für das tägliche politische Geschehen hat. Bin da ganz bei dir und deiner Ansicht. :)
Ich finde das Thema total spannend! Ich sehe es schon so, dass du aber auch die Autorin in der Taz recht hat. Am Ende meiner Yogalehrerausbildung durfte ich mir ein Schwerpunktthema für meine Abschlussarbeit aussuchen und habe Feminismus und Yoga genommen ;-) Und da ich dazu kaum Artikel gefunden habe, habe ich mit Freundinnen über ihr Erleben gesprochen. Und ich habe schon das Gefühl, dass Yoga zur Kompensation verwendet wird. Z.B. haben viele Freundinnen gesagt, dass sie ohne Yoga ihren Alltag (Kinder, Beruf usw.) nicht aushalten würden. Sie tanken auf der Matter praktisch auf und stemmen dann weiter die ungerecht hohe Last alleine. Gleichzeitig sehe ich es aber schon so, dass man nur dann eine gute Aktivistin sein kann, wenn man die eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennt und sich nicht mit jedem Problem so extrem identifiziert. Und da kann Yoga helfen.